
Alles begann mit Wolfgang Iffert. Er kaufte 1764 auf der Leipziger Messe von einem polnisch-jüdischen Handelsmann eine Kiste roh geformter Pfeifenköpfe aus Blockmeerschaum. Iffert stammte aus Ruhla in Thüringen, seinerzeit ein relativ unbedeutender Marktflecken mit etwa 5000 Einwohnern. Schon seit 1739 wurden in Ruhla Holzpfeifen geschnitzt und beschlagen. Pfeifen, die sich zumindest regional einer gewissen Beliebtheit erfreuten. Der gerade zu Ende gegangene, siebenjährige Krieg (1756-1763) hatte auch Ruhla schwer gebeutelt, nun aber standen die Zeichen auf Neuanfang und wirtschaftlicher Erholung.
Die Idee des Wolfgang Iffert ging zunächst nicht recht auf. Da ihm das Wissen um die Bearbeitung von Meerschaum fehlte, sorgte die erste Kiste für einen ziemlichen Verlust. Iffert gab aber nicht auf, erhandelte sich die nächste Kiste roher Meerschaumblöcke und lernte dazu. Die Stadthistorie belegt, dass er bald darauf mehrere Mitbürger und Pfeifenmacherkollegen fand, die sich mit ihm am Meerschaum versuchten. Allmählich wurden die Ergebnisse immer besser und die Ruhlaer Meerschaumpfeife nahm an Bekanntheitsgrad zu.

Um 1797 wiesen die Steuerunterlagen der Stadt bereits über 500 Personen als Werktätige in der Meerschaumfertigung aus. Das waren seinerzeit immerhin 30% aller Einwohner. Die Meerschaumpfeife wurde in Ruhla eine Art „Wirtschaftsmacht“. 22 Pfeifenmacher gab es laut Aufstellung, Wolfgang Iffert war nicht mehr darunter. Ob er zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben war, lässt sich mit vorhandenen Unterlagen nicht mehr klären. Ebenfalls direkt mit der Meerschaumpfeife in Verbindung standen mehrere „Beschläger“. Seinerzeit war es üblich, fertige Meerschaumpfeifen mit Metallteilen, bisweilen sogar Silber, zu verzieren- sie also zu beschlagen.
Aus heutiger Sicht stellt sich vor allem die Frage, wie man in Ruhla an die Rohstoffe aus fernen Ländern gelangte. Moderne Straßen, Fahr-oder gar Flugzeuge standen schließlich nicht zur Verfügung. Eskisehir, als Schürfort des Meerschaums, lag immerhin 2700 Km weit entfernt und auch der Bernstein für die Mundstücke kam vornehmlich aus baltischen Küstengebieten, die auch nicht direkt vor der Tür lagen.
Zu Beginn des 18 Jh. war es so, dass die Meerschaumblöcke in der Türkei in große Körbe verpackt und zum Handelsplatz im damaligen Konstantinopel verbracht wurden . Von hier ging es dann per Pferdewagen über Belgrad oder Budapest gen Westen. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, wie riskant diese Transporte waren. Die vornehmlich jüdischen Handelsfamilien, die den Meerschaumhandel betrieben, hatten aber eine recht gute Organisation. Mehr und mehr gelangte Wien zu Wichtigkeit als Umschlag-und Lagerplatz. Nicht nur das, mit der Zeit übernahmen Wiener Kaufleute auch Beteiligungen an den abbauenden Betrieben in der Türkei, um sie letztlich zu übernehmen und die komplette Kontrolle über Abbau, Transport und Handel zu bekommen. Die Leipziger Messe, vormals Umschlagort für Rohmeerschaum, verlor komplett an Bedeutung.

Für die Meerschaumpfeifenproduktion in Ruhla hatte diese Entwicklung aber trotzdem eher Vorteile. Schickte man aus Eskisehir noch die Kisten unsortiert los, wurden diese in Wien nach Qualitäten sortiert und den Bestellern nach Mengen-und Qualitätswunsch angeliefert. Zudem hatte die Ruhlaer Fertigung den Vorteil, in Wien auch Meerschaum mit dreimonatigem Zahlungsziel kaufen zu können. Das bot gewisse, finanzielle Freiheiten.
Über Jahrzehnte war nämlich gerade der ständig stark schwankende Preis für qualitativ geeignete Rohware ein dauerhaftes, unternehmerisches Risiko. Ohnehin waren die Preise massiv gestiegen, seit vor allem die bessere Gesellschaft (besonders in Wien)den Chic des Meerschaums für sich entdeckt hatte. Zudem hatten politische und geologische Ereignisse immer einen großen Einfluss auf die Preisentwicklung. Während des russischen Krieges (1855/56) stieg der Preis zum Beispiel von einer Lieferung zur nächsten um 300%. Solche Unberechenbarkeiten zwangen Orte wie Lemgo, an denen ausschließlich Blockware verarbeitet wurde, zu umfangreicher Lagerhaltung. Dem allgemeinen Trend zu massiver Verteuerung konnte aber auch das nicht entgegen wirken. Für Normalsterbliche wurden Pfeifen aus Blockmeerschaum immer unerschwinglicher. Obwohl Meerschaum nach wie vor Mode war, sanken die Umsatzzahlen merklich.

Nicht so aber in Ruhla. Schon um 1770 gab es dort erste Versuche, kleinere Stücke oder Späne, die bei der Kopffertigung anfielen, ebenfalls zur Herstellung von Pfeifen zu nutzen, in dem man sie zu Staub zermahlte und unter Zugabe von Bindemitteln zu Pfeifenköpfen presste. Johann Christoph Dreiß nahm sich 1772 dieser ersten Ideen an und schuf daraus ein gangbares Verfahren. Das behielt der gerissene Herr Dreiß aber vorerst für sich. Erst als auffiel, dass er in einem Ranzen heimlich Pfeifenköpfe nach Gerstungen brachte, um sie von dortigen Tonpfeifenmachern brennen zu lassen, wurde das Verfahren bekannt. Dreiß versuchte, mit dem Brennen der Köpfe ein Problem zu lösen. Seine, aus Schlämmen gepressten Köpfe hatten nämlich so viele Lufteinschlüsse, dass die Köpfe rissen, wenn sie warm wurden und die Luft sich ausdehnte. Das Brennen verringerte die Lufteinschlüsse zwar, wirklich haltbar wurden die Köpfe so aber auch nicht. Dreiß brauchte unzählige Versuche und verbrachte Jahre damit, eine Lösung zu finden. Er fand sie…aber, davon profitieren konnte er nicht mehr. Er verstarb, bevor er sein Verfahren erfolg-und gewinnbringend anwenden konnte.
Nach der Perfektionierung des Verfahrens gelang es den Pfeifenmachern von Ruhla beinahe 50 Jahre lang, das Geheimnis zu hüten. In dieser Zeit wurden die Ruhlaer Köpfe nicht etwa als „unechter“ Meerschaum verkauft. Da kaum jemand in der Lage war, echten Blockmeerschaum von gepresster Ware zu unterscheiden, vermied man in Ruhla einfach darauf aufmerksam zu machen. Nun, das spricht nicht unbedingt für Redlichkeit…in jedem Fall aber für die Perfektion des Verfahrens-wenn es nicht einmal Fachleuten auffiel.
Kein Geheimnis bleibt ewig eines und so mischte um 1825 ein Wiener Chemiker namens Wilhelm Holtmann 80% Meerschaumpulver mit reiner, weißer Tonerde, kohlensaurer Magnesia und 35grätigem Wasserglas…der „Wiener Meerschaum“ war geboren!

Trotz zunehmendem Druck der Mitbewerber in einem doch stark schrumpfenden Markt blieb man in Ruhla aber konkurrenzfähig, da man auf die sich ändernde Nachfrage reagierte. Gegen Ende des 18.Jh. gründeten sich in Thüringen etliche „Industrieschulen“. Ihr ursprünglicher Sinn war, Fertigkeiten zu lehren, die eine Existenz als Hausindustrieller ermöglichen sollten. Mit der Jahre später einsetzenden Kunstgewerbe-Bewegung ergänzten diese Schulen ihr Angebot um Freizeichnen, Modellieren, Stilkunde…und um das Meerschaumschnitzen. Diese Schulen konnten ab dem 12. Lebensjahr besucht werden und erlangten einen erstklassigen Ruf spätestens , seit der Hofbildhauer Professor Georg Kugler das Lehren der Schnitzkunst an diesen Schulen übernahm. Kontinuierliche Arbeit und Ausbildung schuf in Ruhla ein derart hohes Niveau in der Bearbeitung von Meerschaumpfeifen, Cigarren-und Cigarettenspitzen , dass die Ruhlaer Arbeiten zu weltweiter Anerkennung gelangten.
Der Niedergang der Meerschaum-Hochzeit war aber auch dadurch dauerhaft nicht aufzuhalten. Vor Ort fehlte es an Absatzmärkten und Großhändler und Exporteure nutzen die geringe, kaufmännische Gewitztheit der Meerschaumschnitzer gnadenlos zu ihrem Vorteil. Mitte der 1890er Jahre mussten die Schulen schließen. Die Pfeifenfertigung wurde auf deutlich einfachere, schmucklose Waren umgestellt, um über die Menge noch halbwegs wirtschaften und existieren zu können.

Es wurde zusätzlich nötig, schneller und gröber zu arbeiten. Damit die Ruhlaer Pfeifen trotzdem noch aus dem übrigen Angebot hervor stachen, entwickelte man Verfahren, die von der gröberen Arbeit abzulenken wussten. Eines war, gefertigte Köpfe nach Schliff, Wachskochung und Politur in einer besonderen Firnis zu kochen, bis sie gesättigt waren. Dann kühlten sie ab und wurden mit Bims poliert. Die dunkelbraune bis schwarze Färbung, die dieses Verfahren ergab wurde sehr beliebt, auch wenn die Porösität und damit Feuchtigkeitsaufnahme des Meerschaums stark litt. Um 1910 herum kam dann die Idee auf, die äußerlich nicht so schönen Köpfe mit feinem Bast zu umflechten. Ebenfalls eine einfallsreiche Methode, die aber wirtschaftlich kein wirklicher Erfolg werden konnte, da die Bastummantelung viel Arbeit war und entsprechend Zeit in Anspruch nahm. Die Uhr des Meerschaums als Material für Gebrauchspfeifen lief unweigerlich ab. Die Bruyerepfeife war industriell schneller herstellbar, sie war leichter, robuster und billiger. Holzpfeifenmacherei hatte in Thüringen ebenfalls eine lange Tradition und profitierte in diesen Zeiten auch vom aufkommenden Boom, für die Meerschaumpfeifen war die Erfolgsspur aber eindeutig zu Ende.
Wer Gelegenheit dazu hat, kann sich im Ortsmuseum von Ruhla heute noch etliche Exponate der vergangenen, großen Zeit des Meerschaums in Thüringen ansehen. Es lohnt sich!
Zum Schluss dieses Artikels sei zwei Männern gedankt, ohne die die Geschichte des Ruhlaer Meerschaums wohl lange schon der Vergessenheit anheimgefallen wäre. Franz Thiel, der im Oktober 1980 verstarb und bis kurz vor seinem Tod der letzte Ruhlaer Meerschaumpfeifenschnitzer war. Er galt zugleich als der Nachlassverwalter der Ruhlaer Meerschaumgeschichte. Ohne ihn wären Unterlagen, Nachweise, Bilder u.ä. sicher irgendwann in den Papierkörben der Gleichgültigkeit verschwunden. Zum Zweiten Anton Manger. Ihm ist zu verdanken, dass Tradition und Geschichte dieses Gewerbes den Weg in die Öffentlichkeit fanden. Bleibt zu hoffen, dass sich nach Anton Mangers Tod noch Menschen finden, die dieses Erbe verwalten und lebendig halten. Denn auch bei der Pfeife gilt: Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht planen.
